Preisträger 2014

Kunstpreis Literatur 2014

Sascha Reh
1974 geboren in Duisburg; schreibt Romane, Erzählungen und Drehbücher, 2005 Abschluss des Studiums der Geschichte, Philosophie und Germanistik in Wien und Bochum, 2004 und 2008 Literaturförderpreis Ruhrgebiet, 2005 Literaturpreis Prenzlauer Berg, 2007 LCB-Stipendium Autorenwerkstatt Prosa für einen Auszug aus dem Roman FALSCHER FRÜHLING, 2009 Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Lukas/Ahrenshoop, 2010 Romandebüt FALSCHER FRÜHLING bei Schöffling & Co., 2011 Niederrheinischer Literaturpreis für FALSCHER FRÜHLING, 2012 Aufenthaltsstipendium Schloss Wiepersdorf, 2013 DIE SUCHE in: ReCovered, neue deutschsprachige Prosa, herausgegeben von Carolin Beutel, Verlag Lettrétage, 2013 GIBRALTAR, Roman, Schöffling & Co, sowie GIBRALTAR, Hörbuch, Audio-Verlag, 2014 Premiere WIE AUS DER FERNE, Kurzfilm (Drehbuch) im Forum Expanded der Berlinale, lebt und arbeitet in Berlin.
 
Jurybegründung
Sascha Reh ist mit seinem zweiten Roman ein hellsichtiges Werk zu einem brisanten Gegenwartsthema gelungen. Es geht, kurz gesagt, um den weltweiten Zusammenbruch der Finanzmärkte am Anfang der 2010er Jahre. In sechs Erzählsträngen entlang der Protagonisten wird von einem traditionell von der Bankiersfamilie selbst geführten Bankhaus erzählt und einem dort angestellten Zocker-Spekulanten, der das Familienunternehmen ruiniert. Dieser geht auf den entfesselten Geldmärkten immer waghalsigere Spekulationswetten ein und zweigt sich selbst dabei eine zweistellige Millionensumme ab. Als der Deal platzt, flieht er ins Steuerparadies Gibraltar.
Der Sohn des alten Bankiers und die Ziehtochter des Spekulanten nehmen die Verfolgung auf, später auch noch dessen Ehefrau, bis es zum Showdown vor der Küste des Mittelmeers kommt.
Erstaunlich kenntnis- und detailreich erzählt der Autor aus der Welt der Finanzökonomie und des gehobenen Geldbürgertums, vom lässigen Geschäfts-Smalltalk der Banker in Frankfurt und von dubiosen Beraterfirmen, vom Luxusleben mit Porsche und 16.000-Euro-Küche und den kriminellen Energien in einer aus dem Ruder laufenden irrationalen Finanzwelt, in der das Geld überhaupt nicht mehr gedruckt zu werden braucht, bevor es verbrennt.
Dabei prallen die Werte des traditionellen Geldkapitalismus mit der radikal entgrenzten Wirtschaftspraxis der hypertrophen Finanzmärkte zusammen. Am Ende gibt es nur Verlierer und ein juristisch nicht fassbares Verbrechen. Dass es bei den Auswüchsen der Finanzblasen nicht nur um irreale Spekulationen, sondern immer auch um reale Menschen und deren Schicksale geht, zeigt die Begegnung mit den wahren Opfern der Krise, illegale Boatpeople, die in den Investmentruinen von Gibraltar hausen.
Sascha Reh kombiniert in seinem eleganten Roman Elemente einer Kriminalhandlung und des traditionellen Familien- und Gesellschaftsromans in der Tradition der Buddenbrooks mit einer modernen, multiperspektivischen Erzählweise und einem actionreichen Roadmovie. Stilistisch virtuos, psychologisch präzise und mit erzählerischer Leidenschaft entwirft er überzeugende Szenarien aus der heutigen Wirtschaftswelt. So gelingt Sascha Reh ein glänzender, überzeugender Gegenwartsroman, der von Schuld und Verstrickung in der Epoche des globalisierten Kapitalismus erzählt.
Dr. Peter Böthig für die Jury

Kunstpreis Fotografie 2014

Rudi Meisel 

1949 geboren in Wilhelmshaven, 1969-1975 Studium der Fotografie bei Otto Steinert an der Folkwangschule in Essen, 1970 und 1971 Deutscher Jugendfotopreis, 1975 Mitbegründer von VISUM, erste Fotografenagentur der BRD, 1979 Kodak-Fotobuchpreis: „Städte, die keiner mehr kennt“, Reportagen aus der DDR, Hanser Verlag, München, 1981-1997 Internationale Buchprojekte mit ca. 100 Fotografen weltweit, 1987 Stipendium Museum Folkwang Essen: „Endlich so, wie überall“, Kulturstiftung Ruhr, 2004 Stipendium des Kulturwerks der VG Bild/Kunst, Bonn: „London revisited, 1967-2006“, lebt seit 1996 in Berlin.
 
Bewerbung
Zwischen 1977 und 1987 fotografierte ich mit Hilfe von Stipendien (Museum Folkwang Essen, Institut für Auslandsbeziehungen), im Auftrag von Redaktionen (Zeitmagazin, Merian, Geo) und in eigenen freien Projekten (Straßenfotografie) Reportagen und Einzelbilder über Menschen und Betriebe, Städte und Landschaften, in der BRD und der DDR.
Schon bald erkannte ich mein großes Thema, beide deutsche Staaten zusammen zu sehen. Ich nutzte die Freiräume und fotografierte meist auf der Straße. Mich interessierten die Geschichten der kleinen Leute im Osten wie im Westen; ich entdeckte viele Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede.
In den letzten Jahren habe ich mein Schwarzweiß-Archiv mit diesem Blick neu geordnet, gesichtet und eine Auswahl getroffen. Es ist eine Zusammenschau beider ehemaliger deutscher Staaten. Jetzt ist dieses West-Ost-Konvolut komplett digitalisiert.
Die Maueröffnung vor 25 Jahren und die folgenden Ereignisse ließen die DDR, aber auch die ruhige, reiche BRD samt West-Berlin verschwinden. Geschichten und Bilder von Ost und West sind Legende. Einige davon kann ich zeigen. Die 15 Fotos sind wie eine Generationenfolge jener Jahre geordnet und so zu lesen.
Zum 25. Jahrestag soll ein Buch aus diesen meist unveröffentlichten Schwarzweiß-Fotografien entstehen, das meine Sicht erstmals zusammenfasst.

Jurybegründung

Rudi Meisel. Landsleute 1977-1987.
Drei Jahre nachdem Rudi Meisel sein Studium bei Otto Steinert an der Folkwangschule Essen abgeschlossen und zusammen mit André Gelpke und Gerd Ludwig die Fotografenagentur VISUM gegründet hatte, erhielt er vom ZEIT-Magazin den Auftrag, in der DDR das alltägliche Leben im anderen Deutschland zu fotografieren. Das war 1978, Meisel war 29 Jahre alt und er sollte mit diesem Auftrag, der ihn in das entlegene Zittau führte, sein großes Thema finden: „Geschichten erzählen“, wie er es nennt, Geschichten vom Alltag der Deutschen, der sich diesseits und jenseits der Mauer zwar in so vielen Strukturen zutiefst unterschied, der aber doch sehr viel mehr Ähnlichkeiten aufwies als gemeinhin angenommen und propagiert.
Den weiteren Reisen nach Lauscha, Wittenberg, Neuruppin, Güstrow und Ost-Berlin, zusammen mit der Autorin Marlies Menge (und unter Beobachtung eines nicht bestellten Begleiters des Internationalen Pressezentrums), die das ZEIT-Magazin von 1978 bis 1989 brachte, folgten Aufträge für Geo, Merian, das Institut für Auslandsbeziehungen und ein Stipendium vom Folkwang Museum Essen, die über Jahre hinweg zeitgleich auch seinen Blick auf das Leben in der BRD zu schärfen erlaubten. Meisel fühlt sich bis heute vor allem dem Ruhrgebiet verbunden, wegen des offenen, sympathischen und unkomplizierten Menschenschlags und sicherlich auch wegen seinem eher links orientierten Gesellschaftsblick. Aber auch West-Berlin hat es ihm angetan, wo er einen Zweitwohnsitz hatte. 1997 zog Meisel endgültig nach Berlin. Nach Ost-Berlin in die Karl-Marx-Allee, um genau zu sein.
Ihn interessierten die Geschichten der kleinen Leute im Osten wie im Westen, er wollte die beiden deutschen Staaten zusammen sehen, um die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede zu entdecken. Und so entstanden Bilder des Alltäglichen, in denen die Veränderungen und somit die Vergänglichkeit ablesbar sind und die zu authentischem Anschauungsmaterial wurden. Diese Aufnahmen wurden zu Zeitbildern, die Fragen nach den Prägungen berühren aus einer gemeinsam erlebten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Vergangenheit, Fragen nach dem, was die Menschen in Ost und West trotz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme und Ideologien gemeinsam hatten und immer noch haben, was die Eigenheiten des „Deutschen“ ausmachen. Sei es das Kleinbürgerliche der Kleidung, das Piefige oder Spießige der Wohnungseinrichtung, das Uniformierte im öffentlichen Raum, seien es die Gepflogenheiten beim Stammtisch und auf dem Fußballplatz oder die Insignien jugendlicher Revolte – die Vergleichbarkeiten zeigen sich in allen Schichten und Altersstufen des gesellschaftlichen Lebens. Aber auch in der Architektur, wie etwa in der Ödnis menschenleerer Vorstädte, der Unwirtlichkeit baufälliger Ruinen oder in den großbürgerlichen Häusern der Vorkriegszeit stellen sich Ähnlichkeiten ein. Häufig entstehen Irritationen, weil eine Zuordnung nur möglich ist, wenn man die Bildlegende liest. Aber auch das hilft nicht immer weiter, man muss auch wissen, wo Benneckenstein oder Warnemünde liegen, denn der Hinweis darauf, ob das Foto in der BRD oder der DDR entstand, ist bewusst nicht gegeben. Ein eigenartiger, verwirrender Effekt, der damals sicherlich nicht so wahrgenommen wurde wie heute, der aber diesem fotografischen Langzeitprojekt eingeschrieben war.
Rudi Meisel ist der leise, melancholische Ton der Schwarzweißfotografie sehr viel verwandter als der laute Klang bunter Doppelseiten. Er brachte natürlich auch farbige Aufmacher, mit einem klaren Gespür für farbliche Stimmungen. Aber er blieb stets der klassischen Sprache des Bildjournalismus und der aufkommenden streetphotography seiner Zeit verschrieben. Man sieht seinen prägnanten Kompositionen an, dass er sich an Vorbildern wie Henri-Cartier Bresson, Robert Frank, Bruce Davidson und Thomas Hoepker orientierte. Der entscheidende Augenblick, in dem sich die Geschehnisse auf der Straße oder auch im privaten wie öffentlichen Innenraum zu einem Gesellschaftsbild verdichten, erzählt mehr als nur das im jeweiligen Moment dargestellte Geschehnis. Die tiefer liegenden Schichten werden durch die meisterhafte Beobachtung der zwischenmenschlichen Kommunikation frei gelegt, in der Bewegung der Menschen innerhalb eines Raumgefüges, die untereinander in Beziehung treten. Aber auch die Bezüge im Bild zwischen den Mustern von Vorhängen, Wachstischdecken, Schürzen und Tapeten, zwischen Schildern und Schrifttafeln, zwischen Schatten und Spiegelungen erzeugen einen beredten Dialog der Bilddinge untereinander, der die Szene zum Leben erweckt und mitunter zum Schmunzeln einlädt. Das Menschliche erhält universale Qualität, ungeachtet der geografischen oder sozialen Herkunft. die Maueröffnung vor 25 Jahren und die darauf folgenden Ereignisse ließen die DDR, aber auch das ruhige, reiche West-Deutschland verschwinden. „Ich habe die Welt fotografiert, als sie in Ordnung, bzw. in einer anderen Ordnung war“, beschließt der Fotograf sein fotografisches Vermächtnis. Die Bilder und die Geschichten von Ost und West sind Legende. Seine langjährige Serie „Landsleute“ betrachtete er damit als abgeschlossen. Nach 1989 wandte sich Rudi Meisel anderen fotografischen Aufgaben zu.
Die Jury prämiert die inhaltlich wie ästhetisch herausragende Qualität einer fotografischen Beobachtung, die die deutsche Geschichte ab Mitte der 1970er Jahre bis zum Mauerfall von beiden Seiten des Vorhangs aus betrachtet und die in ihrer Ausgewogenheit jenseits aller Klischees einzigartig ist. Man kann es nicht treffender formulieren als mit den Worten des Berliner Fotohistorikers Enno Kaufhold: „Rudi Meisel ist der einzige, der Ost und West zeitgleich und mit ähnlichem Blick fotografiert hat. Darin ist er Avantgarde.“

Dr. Christiane Stahl für die Jury

 

Arwed Messmer
1964 geboren in Schopfheim, Baden-Württemberg, 1988 bis 1993 Studium der visuellen Kommunikation an der FH Dortmund, 1989/1990  DAAD Stipendium an der HGB Leipzig, 1992 Arbeitsstipendium der Kulturverwaltung des Berliner Senats, 1993 Arbeitsstipendium der Stiftung Kulturfonds, 1995 Otto-Steinert-Preis der DGPh, 1998 Aufenthaltsstipendium in Atlanta/US, 2001 Arbeitsstipendium der Kulturverwaltung des Berliner Senats, 2008 Katalogförderung der Kulturverwaltung des Berliner Senats, 2008/2009 Lehrtätigkeit an der Ostkreuzschule für Fotografie, Berlin, 2010 Projektförderung des Hauptstadtkulturfonds Berlin, 2011 Deutscher Fotobuchpreis Gold und DAM Architectual Book Award, Projektförderung der Kulturstiftung des Bundes, 2012 Deutscher Fotobuchpreis Silber und DAM Architectual Book Award, 2013 Projektförderung der Bundesstiftung Aufarbeitung, lebt in Potsdam.
 
Bewerbung
Bei Reenactment MfS arbeite ich wie bei meinen vorangegangenen Projekten vornehmlich mit gebrauchsfotografischen Überlieferungen aus Archiven. Die Idee zu Reenactment MfS geht auf Recherchen im ehemaligen Archiv der Grenztruppen der DDR zurück, die ich 2010/2011 im Rahmen des Buch- und Ausstellungsprojekts Aus anderer Sicht. Die frühe Berliner Mauer machte, das ich gemeinsam mit der Schriftstellerin Annett Gröschner realisierte. Das Ausgangsmaterial der hier in Auszügen vorliegenden neuen Arbeit stammt vornehmlich aus dem Archiv der Stasiunterlagenbehörde (BStU), in dem ich im vergangenen Jahr intensiv recherchierte.
Im Herbst 2014 wird die Arbeit als ca. 240 Seiten starkes Buch mit ca. 150 Abbildungen erscheinen und im Haus am Kleistpark in einer Einzelausstellung zu sehen sein. Bei der Archivrecherche interessierte mich der fotografische Blick des Geheimdienstes auf die Versuche von DDR-Bürgern, die Berliner Mauer zu überwinden.
Mich fasziniert dabei die Entschlossenheit und der Erfindungsreichtum, die Mauer zu übersteigen, zu untergraben oder sich im Kofferraum eines Fluchthelfers nach Westberlin schleusen zu lassen. Wie dokumentierte die Staatssicherheit, bei der das Medium Fotografie eine bedeutende Rolle spielte, diese Vorgänge? Mich interessiert nicht, diese Fotos wie ein Historiker zu verwenden, der eine wissenschaftliche These damit illustriert, sondern ich löse mit meiner Arbeitsmethode die Archivbilder aus ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhang und stelle sie frei, wobei gleichzeitig die Frage nach der Objektivität des dokumentarischen Bildes noch einmal neu ange-zweifelt wird, da es nie frei von Inszenierung ist.
In der Arbeit zeige ich verschiedene, von mir zusammengestellte Werkgruppen, die aus Fotografien bestehen, die ich aus den Akten recherchiert habe und die in Form einer Collage ineinander verflochten sind. Einige Werkgruppen sind von der Staatssicherheit befohlene Reenactments, aus denen sich auch der Titel der Arbeit ableitet. In mehreren Fällen sind dies Nachstellungen mit verhafteten Flüchtlingen, die nach einer missglückten Schleusung gezwungen wurden, für den Stasifotografen die soeben aufgedeckte und verhinderte Flucht noch einmal zu wiederholen.
Es ist für die Familien in der Regel der letzte Moment des Zusammenseins und der körperlichen Nähe, bevor sie getrennt werden. Ergänzt wird das Material durch von mir fotografierte Asservate aus den Akten (Beispiel: Kleeblätter), von mir nachinszenierte Vorgänge, die sich aus den Fluchtprotokollen ergeben, aber als Bilder nicht überliefert sind (z.B. eine aufsteigende Signalrakete) oder die Aufnahmen eines topografischen Modells der Grenze in und um Potsdam, mit Hilfe dessen die Grenztruppenangehörigen in Dienst und Freizeit Grenzdurchbrüche nachgespielt haben. In einer anderen Sequenz stelle ich mit den in einer kriminaltechnischen Ermittlungsakte gefundenen und digital bearbeiteten Fotos den Verlauf der Flugbahn einer Gewehrkugel durch Kleidung und Körper eines Maueropfers nach.
Ein dritter Bildtyp ist ein durch Stasimitarbeiter selbst durchgeführtes Reenactment, bei dem der Tod eines Grenzsoldaten nachgestellt wird, wobei die Mitarbeiter auf den Fotos verschiedene Rollen einnehmen. Buch und Ausstellung verzichten auf erklärende Bildlegenden im Umfeld der Bilder. Im Buch gibt es keine Paginierung, dafür hat jede Abbildung eine Nummer. Es gibt einen Beileger aus Dünndruckpapier, in dem, neben der Archivsignatur und dem Bildinhalt, der abgebildete Vorgang kurz kontextualisierend erklärt wird. Die Rezeption der Fotografien soll unabhängig, d.h. den Interpretationen der Betrachter überlassen bleiben. Reenactment MfS ist mein Ansatz, mit dieser komplexen Bildcollage 25 Jahre nach dem Fall der Mauer einen bedeutsamen Teil der jüngeren deutschen Geschichte inhaltlich wie formal neu zu thematisieren.
 
Jurybegründung
Ein Kleeblatt
Seit 2010 sichtet Arwed Messmer in den Archiven der Stasi-Unterlagen-Behörde BStU den Bestand an Fotografien, die im Zusammenhang mit den Grenztruppen der DDR, der deutsch-deutschen Mauer und Republikflucht aufgenommen wurden – ein Grenzabschnitt oder die Beschädigungen der Bauten werden dokumentiert oder auch die Habseligkeiten von jemandem, der bei seiner Flucht in den Westen eschossen wurde. Die Bilder waren administrativ-bürokratischer Natur; sie wurden den entsprechenden Akten als Dokumente beigefügt. Wie befragt man solche Bilder nach dem, was sie gleichsam beiläufig mit aufnahmen – den Lebensrealitäten der Menschen, der Täter, der Opfer, der Schweigenden?
Messmer entwickelte drei Methoden, um mit dieser Frage umzugehen: wählte Bilder aus dem Archiv aus, die ihm als primäres Dokument interessant erschienen und integriert sie als Reproduktionen in seine künstlerische Arbeit; oder er bearbeitete die Bilder, um Störungen zu beseitigen oder Elemente freizustellen; oder er nutzte die Bilder als Vorlagen für eigene Arbeiten, die die Bildsprache der Stasi-Aufnahmen wiederholen, brechen und reflektieren.
In ihrem Zusammenhang legen die verschiedenen Bildtypen etwas frei, das für die Fotografie konstitutiv ist – dass nämlich nie vollständig zu kontrollieren ist, was neben dem eigentlichen Motiv mit zum Bild wird. Diese Details sind es, an denen die Fotografie auf Authentizität verankert ist. Doch sind auch sie es, über die Details in das Bild sickern können, die der Intention entgegen laufen. In den Oszillationen zwischen Intention und Details wird unscharf, was die beabsichtigte Wahrheit und was die aufgenommene Realität ist – so weit, dass ein fiktives Bild Wahrheiten zeigen kann, die den authentischen Bildern entgehen. Und vollends gegen den bürokratischen Akt laufen jene Bilder, die ganz buchhalterisch Details vereinzeln und aufzählen – wie ein blutverschmiertes Hemd, ein vierblättriges Kleeblatt und Patronenhülsen. Sie erscheinen als Stillleben und damit als memento mori, als Erinnerung an einen Tod und ein Töten, dessen ordnungsgemäßer Vollzug, dessen kühle Brutalität gerade in dem Mangel an Dramatik der Bilder so furchtbar erschreckend wirken. Die Bilder und ihre Sprache sind die Bilder und Sprache der Täter – wer verhaftet wurde, machte keine Bilder, wer an die Grenze kam, konnte dort nicht fotografieren. Messmers Methoden der Aneignung, der Bearbeitung und der Wiederaufführung sorgen dafür, dass der Anteil der Opfer an diesen Bildern sichtbar wird: als Leerstelle. Indem er die Bilder zeigt, legt er frei, was diese Bilder nicht zeigen und nicht zeigen sollten. Ein Hemd mit Blutspuren wird im Kontext der Archive zur Allegorie der gescheiterten Flucht, ihrer Notwendigkeit und Dringlichkeit und der Macht, mit der sie verhindert wurde. Und ein vierblättriges, gepresstes Kleeblatt wird zum Emblem einer gescheiterten Hoffnung – der Flüchtende hatte in seinen Ausweispapieren einen Talisman versteckt. Erst Messmer hat nach Jahrzehnten dieses Relikt dort entdeckt.
Ihrem ursprünglichen Zusammenhang entnommen, werden die Bilder zu autonomen Informationsträgern, die vollkommen neue Lesarten ermöglichen. Dadurch sind Kontextverschiebungen der ursprünglichen sozialen und politischen Hintergründe möglich und werden neu interpretier- und begreifbar. Die Vielschichtigkeit der Wahrnehmung von Realität wird hier auf einer rein fotografischen Ebene vertieft und beleuchtet, damit immer auch die Rolle des Mediums, wie sie bei der Erhaltung, Schaffung und Konstruktion von Erinnerung sowie der Bedeutung und Verwendung fotografischer Archive immanent ist. Auf diese Weise veranschaulicht und dokumentiert die entstandene Arbeit nicht nur den Umgang mit Geschichte, sondern thematisiert darüber hinaus die Vielschichtigkeit der Wahrnehmung von Realität sowie die komplexe Verschränkung des Historischen mit der Gegenwart.
Was bleibt, ist schließlich nicht nur die Frage nach dem Informationsgehalt von Fotografie, sondern auch die Frage, wie sehr Fotografie Wirklichkeit nicht nur dokumentiert, sondern immer auch konstruiert – eine Frage, die gerade in unserer heutigen, von Bildern geprägten Welt und im Umgang mit Archivmaterial von höchster Wichtigkeit ist. Denn nicht nur die Entstehung von Bildern zu einem unüberschaubaren Bilderberg ist das eigentliche Ereignis unserer Tage, sondern die Verwaltung, Archivierung, Speicherung und der damit verbundene Umgang.
Wie wichtig der Umgang mit Erinnerung und Aufarbeitung ist, wird in dieser Arbeit spürbar. Sie lässt einen nicht kalt. Genau wegen der intelligenten und künstlerisch kritischen Herangehensweise an dieses Thema, verleiht die Jury Arwed Messmer den Fotopreis Lotto Brandenburg 2014.
 
Felix Hoffmann für die Jury