Preisträger 2013

Kunstpreis Literatur 2013

Björn Kuhligk
Geboren 1975 in Berlin, Ausbildung zum Buchhändler, lebt mit seinen Kindern in Berlin. 2002 bis 2006 Redakteur der Literaturzeitung „lauter niemand“. 2006 bis 2009 Leitung der Schreibwerkstatt „open poems“ der Literaturwerkstatt Berlin.

Preise / Stipendien
1997 5. open mike der Literaturwerkstatt Berlin. 2001 Gewinner der Sparte Lyrik an der www.literaturboerse.com des Steirischen Herbstes. 2007 Arbeitsstipendium der Stiftung Preußische Seehandlung. 2008 Arbeitsstipendium des Berliner Senats. März, Stadtschreiber in Eskişehir/Türkei im Rahmen des Projektes Yakin Bakiş des Goethe-Instituts und www.literaturhaeuser.net.

Jurybegründung
Björn Kuhligks 5. Gedichtband „Die Stille zwischen null und eins“ lotet das Leben im digitalen Zeitalter aus. Was gibt es noch zwischen den binären Codes des Computers? Wo lässt sich Subjektivität behaupten, wenn alle Realität, einschließlich der des Subjekts und der Sprache, schon im digitalen Duplikat vorliegen, verziffert und überschrieben in animierten Welten?
Der Titel behauptet, es gäbe diesen Zwischenraum und dort herrsche Stille. Die Gedichte Björn Kuhligks geben dieser „Stille“ einen vielfältigen Klang. Von Aufbrüchen ist die Rede, von Reisen, ins Heimatdorf, nach Paris, Bukarest, Istanbul, Kanada, und immer wieder ans Meer.
Momentaufnahmen von privaten Situationen, ein Wohnungsumzug, das Wachen beim kranken Kind, stehen für die zumindest punktuelle Unverfügbarkeit des Lebens, das nicht in Zahlen aufgeht. Einige Gedichte beschränken sich auf kleinste Ausschnitte, in denen dennoch die große Geschichte des menschlichen Lebens aufscheint – auch wenn das lyrische Ich auf seine Fragen nur „Antworten wie Weltraumschrott“ erhält. In anderen, eher weltanschaulich angelegten Gedichten kommt ein „wir“ zur Sprache, ein generationsspezifisches kollektives Ich. In zuweilen schroffen Brüchen und der für Kuhligk typischen Lakonie scheint dabei immer wieder Rebellion auf. So bewahren die Gedichte, in großer sprachlicher Präzision, sehr heutig in ihrem Gestus, und sehr illusionslos in ihrem Sich-Aussetzen, ein Aufbegehren. Sie hissen, wie es in einem Gedicht heißt, „eine gegen den Wind gerichtete Fahne“.

Dem Autor gelingt es eindrucksvoll, in beklemmenden Sprachbildern und faszinierend schönen Versen einen Status Quo zeitgenössischer Erfahrungsmöglichkeiten lyrisch zu fassen.

Dr. Peter Böthig für die Jury

Tom Schulz
Geboren 1970 in der Oberlausitz, aufgewachsen in Ost-Berlin. Besuch der allgemeinen Oberschule. Ausbildung zum Industriekaufmann. 1989 Erste Veröffentlichung von Gedichten. 1989 Grundwehrdienst in der NVA bis Sommer 1990. Von 1991 bis 2001 verschiedene Jobs in der Baubranche. 1997 Erste Buchveröffentlichung. Von 1998 bis 2001 Herausgeber der edition MINOTAURUS (zusammen mit Björn Kuhligk). Von 2008 bis 2011 Mitherausgeber der Literaturzeitschrift „lauter Niemand“. Seit 2002 Freier Autor, Lyrik, Prosa, Übersetzungen und Herausgabe. Seit 2008 Dozent für „Kreatives Schreiben“ und Lyrikworkshops u.a. an den Universitäten Augsburg und Kassel. Seit Herbst 2011 Leiter der Schreibwerkstatt „open poems“ an der Literaturwerkstatt Berlin.

Preise / Stipendien
1991 Preisträger beim Treffen Junger Autoren, Berlin. 1996 Gastpoet an der Universität Augsburg. 1998 2. Preis der Regensburger Schriftstellergruppe International, Regensburg. 2003 Lauter Niemand Lyrikpreis. 2010 DAGNY-Stipendium der Villa Decius und der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit, Krakau. 2010 Bayerischer Kunstförderpreis für Literatur. 2010 Stipendium der Stiftung Preußische Seehandlung. 2011/12 Stipendium des Künstlerhofes Schreyahn. 2012 Stadtschreiber von Rheinsberg. 2013 Heinrich-Heine-Stipendium, Lüneburg.

Jurybegründung
Tom Schulz’ neuer Gedichtband „Innere Musik“ versammelt Gedichte von großer sprachlicher Genauigkeit, Musikalität und Leichtigkeit, eine Poesie, die ausgestattet ist mit dem Wagnis, staunendes Sehen in die Lyrik zurückzutragen. Hier nimmt ein lyrisches Ich sich und sein Empfinden mit jenem nahezu heiligen Ernst wahr, den erst die unterlegte Ironie zur vollen Wirkung bringt, eine Ironie, wie sie die Romantik kannte: verspielt, pathetisch, melancholisch und hoch reflexiv. Die Lebenswirklichkeit in den Gedichten von Tom Schulz ist von Momenten der Erhabenheit ebenso durchdrungen wie von Sinnlichkeit und Todesahnung. Sprachbilder von Schlaf und Traum, den Übergangsformen des Bewusstseins, führen in jene Schwebezustände, in denen Bekanntes ins Schlingern gerät, Vertrautes zerfließt, in dem sich das Sehen neu formt, und „die wenigen Gramm der Welt“, die übrig bleiben, große Schönheit entfalten. Nicht von ungefähr klingt die Lyrik der Romantik oder des Barock in diesem Lyrikband hintergründig mit. Endlichkeitswissen und leise Trauer bilden die Folie für Überschwang und berauschte Hinwendung zur Natur. Das Spiel mit Gegensatz-paaren findet seinen Ausdruck in einem hohen, getragenen Ton, der plötzlich umschlagen kann ins Komische, ins Alltagssprachliche, was jene Magie aus den Worten hervortreibt, die uns an imaginäre Orte versetzt, an denen eine „reine Poesie ohne Sprache“ denkbar wird. Ob familiäre oder freundschaftliche Bindungen ausgelotet werden, ob Liebe, Verlust, Erotik oder das künstlerische Ich zum Thema gemacht werden; durch das hintergründige Aufleuchten historischer und zeitgeistiger Landschaften erlangen die Gedichte Gegenwärtigkeit. Vor allem aber ist Tom Schulz ein Meister der Unterströme des Bewusstseins. Träumerisch sicher führt er an den Klippen des Empfindsamen entlang; eine elegische Dichtung mit Bodenhaftung.
„Innere Musik“ zeugt vom Auftrumpfen einer Sprache, die sich – unabhängig von modischen Strömungen – eine Empfänglichkeit bewahrt hat für das Unerhörte, das Überraschende, das Wunderbare des Daseins im Angesicht seiner Vergeblichkeit.

Antje Rávic Strubel für die Jury

Kunstpreis Fotografie 2013

Ingar Krauss
1965 in Ost-Berlin geboren, lebt in Zechin (Brandenburg); nach Schulabschluss, handwerklicher Lehre und Armeedienst verschiedene Tätigkeiten; seit Mitte der Neunzigerjahre freischaffender Fotograf. 1995 bis 1999 jährliche Werkverträge mit der Sozialen Künstlerförderung Berlin. 2002 Auslandsstipendium des Berliner Kultursenats für Moskau. 2003 Fotografiestipendium der LAND BRANDENBURG LOTTO GmbH, Projektstipendium der VG Bild-Kunst Bonn. 2004 Grand prix interna-tional de photographie de la ville de Vevey: >>Prix Leica<<. 2006 Arbeitsstipendium des Brandenburger Kulturministeriums. 2007 Reisestipendium der Robert Bosch-Stiftung. 2010 Sylt-Preis für zeitgenössische Fotografie, Stipendium Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf, Dresdner Stipendium für Fotografie der Stiftung Kunst & Kultur der Ostsächsischen Sparkasse Dresden. 2011 Artist in Residence im Kaliningrad Centre for Contemporary Arts / Künstlerhaus Lukas. 2012 Artist in Residence im Velan Center Turin, Italien; Projektstipendium der VG Bild-Kunst Bonn.

Bewerbung
Der Gärtner tut mit seinen Sträuchern und Stauden, was der Dichter mit den Worten tut: er stellt sie so zusammen, dass sie zugleich neu und seltsam scheinen und zugleich auch wie zum ersten Mal ganz sich selbst bedeuten.
Hugo von Hofmannsthal

Seit ich vor einiger Zeit Stipendiat auf Schloss Wiepersdorf war, habe ich mich viel mit dem dort sehr präsenten Thema der deutschen Romantik beschäftigt, speziell mit der Sehnsucht der Romantiker nach (Selbst-) Erkenntnis in der Natur. Als ein Zwischenreich aus Natur und Menschenwerk habe ich dort den Garten als bildnerisches
Thema und Assoziationsraum für mich entdeckt. Im ländlichen Wiepersdorf habe ich mit meiner Serie von Nature Mortes begonnen, die ich bis heute fortsetze. In diesen Bildern finden sich Früchte, Gemüse und andere Gewächse, anfangs aus Wiepersdorfer Gärten und Wäldern, später aus meinem eigenen Garten; und manchmal auch in der Umgegend gefundene oder von benachbarten Jägern erlegte Tiere. So wie jeder Gärtner versucht, seine spezielle Ordnung in die Natur zu bringen, so habe auch ich versucht, die Pflanzen in diesen Bildern unter Berücksichtigung ihres vegetabilen Eigensinns kompositorisch zu ordnen. Jedes Stillleben wird so zu einem poetischen Versuchsfeld. Die Stillleben sind analog in Schwarzweiß fotografiert, auf mattem Silbergelatinepapier ausbelichtet und anschließend von Hand mit Ölfarben bearbeitet. Bei den eingereichten Bildern handelt es sich um Probeabzüge, sie sind deswegen nicht einheitlich, bei einigen habe ich versuchsweise einen Firnis aufge-tragen. Die Originale variieren im Format zwischen 47 x 55 cm und 69 x 97 cm.

Jurybegründung
Ingar Krauss „Nature Morte“ und die Sellerieknolle Oder: Warum kann ein Stillleben Gänsehaut verursachen?
Da liegt eine Sellerieknolle, ihr Blattwerk wie einen Haarschopf nach hinten geworfen; ein grober Faden bündelt einige Gurken zu einer Gruppe; sieben Pilze posieren wie für ein Gruppenporträt. Die Hintergründe sind neutral, im Vordergrund etwas Erde, die Beleuchtung setzt das Gemüse genau in Szene. Was können heute Stillleben noch leisten? Was können uns Pflanzen noch sagen, die eben in der Erde gewachsen sind?

Seit der niederländischen Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts entwickelten sich ausgeklügelte Bezugs- und Bedeutungssysteme von Gegenständen. Ein kostbares Weinglas, ein Totenschädel, ein aufgeplatzter Granatapfel sind in diesen Systemen nicht nur Studien von Oberflächen und Dinglichkeiten, sondern Symbole für Ge-schmack, für die Vergänglichkeit alles Irdischen und für Sinnlichkeit und Sexualität.
Ingar Krauss’ Inszenierungen von Gewächsen knüpfen hier an. Oszillierend zwischen Heiterkeit und Vergänglichkeit inserieren sie jedoch auch andere Symboliken. Pilze etwa kommen in den klassischen Stillleben eher selten vor – wohl auch, weil sie weder für religiöse noch moralische Themen so recht brauchbar erscheinen. Wenn – und wie – Krauss sie fotografiert, werden sie dennoch symbolisch aufgeladen. Sie erscheinen auch nicht für den Verzehr zugerichtet, sondern eher als eine stille, aufrecht stehende Gruppe, die bei aller Vergänglichkeit unablässig weiter wächst, weniger Vanitas-Stillleben als vielmehr das Bild von etwas, das nicht weniger wird und nicht aufhört. Der Lauch – in anderen Stillleben ebenfalls selten – wird ähnlich gruppiert; aber wo die gedrungenen Pilze Stabilität durch Erdverwachsenheit suggerieren, sehen die Lauchstangen nackt und bloß aus und so instabil, dass sie durch eine Schnur gestützt werden müssen, um aufrecht zu stehen.
Für die Aufnahmen baut Krauss eine kleine Bühne mit einer Leinwand im Hinter-grund – einen Guckkasten, durch den das natürliche Licht, der Hinter- und Vordergrund genau kalkuliert werden können. Die Gemüse bekommen so ihren Auftritt wie im Theater – mal allein, mal als Gruppe, mal als Ensemble mit anderen Gemüsen. Die Genauigkeit dieser Auftritte unterstreicht deren Ernsthaftigkeit ebenso wie die Leichtigkeit, mit der sich die Gewächse in Pose stellen.
Die Arrangements werden mit einer großformatigen Kamera in S/W festgehalten, auf mattem Silbergelatinepapier abgezogen und anschließend von Hand mit Ölfarben leicht getönt, ohne dass dabei der Charakter der Fotografien verändert würde. Diese Arbeitsweise verdeutlicht, wie stark es hier um manuelles, handwerkliches Geschick geht. Hier bearbeitet jemand den Garten seiner Bilder nicht mit Breitbandherbiziden und überdimensionalen Mähdreschern, sondern wie ein achtsamer Gärtner hier eine Pflanze sorgfältig schneidet und dort ein wenig Unkraut zupft, so wird auch bei der fotografischen Umsetzung alles per Hand bereitet. Seit einem Stipendium im Schloss Wiepersdorf setzt Krauss sich mit dem Gedeihen und Wachsen von Früchten, Gemüsen und Gewächsen auseinander, die er in den Gärten und Wäldern dort fand. Die Ordnung in den Beeten übersetzt Krauss unter Berücksichtigung des Eigensinns der Pflanzen in seinen Arrangements. Das Stillleben, und das merkt man jedem Bild an, wird zu einem Versuchsfeld: Es entstehen Beziehungen aus Spannung, Distanz und Nähe.
Die Tiefe, Farbigkeit und Konsequenz der Komposition reflektiert nicht nur die erste Dekade der Fotografie im 19. Jahrhundert, als die Belichtungszeiten noch so lange waren, dass man lieber Gegenstände als Menschen fotografierte, die sich nicht bewegen konnten. Sie transportiert auch eine Heiterkeit mit Gegenständen zu spielen und sie so ins Licht (als einziges dramaturgisch durchgängiges Element) zu setzen, dass sie in den Bildern weiterleben. Die Fotografien von Ingar Krauss sind damit weniger Vanitas Stillleben, die allein den Tod oder das Vergängliche reflektierten, als das genaue Gegenteil.
Kein anderes bildgebendes Verfahren baut auf unterschiedlichen Ebenen Bezüge zu Tod und Vergänglichkeit auf wie die Fotografie. In vielen fototheoretischen Texten wird davon ausgegangen, dass das Verfahren der Fotografie erst zum Tod des fotografierten Objekts (es wird immer von Porträts ausgegangen) führe. Ob Siegfried Kracauer, Susan Sontag oder Roland Barthes, sie alle rekurrieren auf „die todbringenden und kaltstellenden Eigenschaften des modernen Speichermediums“, die ins Zentrum einer Medienanalyse gerückt wurden.1 Verknappend argumentiert dabei etwa Susan Sontag, die den Gedanken entwickelt, dass die Fotografie ein Vorher und Nachher markiere, das sich als Schnitt in einer zeitlichen Sequenz an seinem Gegenüber manifestiere und in der Fixierung zum Tod desselben führen müsse. Der Augenblick der Bildherstellung sei somit in der Stillstellung gleichsam der Augenblick des Todes, und so jene Zäsur, die die Fotografie notwendigerweise vollziehen muss, um ein Bild zu erhalten. Sontag begreift die Fotografie als Ausschnitt aus Raum und Zeit, der durch variable Größen einen Rahmen bestimmt, und so den Informationsgehalt einer Fotografie an diese Konstanten koppelt. Im Einfrieren eines Moments erkennt sie einen „Widerspruch zur Form dieses Lebens, die eine Abfolge von Ereignissen, also vom Fluss der Zeit bestimmt ist“2. Auch Barthes spricht von diesem ‘Gerinnungsmoment’, das er an eine in der Fotografie angelegte Todesmetaphorik knüpft. Der Tod ist, nach Sontag und Barthes, in der Fotografie per se angelegt und konstituiert die Besonderheit des Mediums: Ein Foto schafft bloße „Pseudo-Präsenz“ und steht eigentlich im „Zeichen der Abwesenheit“3.
Krauss’ Arbeiten von gepflückten oder dem nährenden Erdboden entnommenen Gewächsen stehen jedoch in klarem Widerspruch zu diesen Thesen: hier zeigt die Aufnahme eben jene Abwesenheit des Fotografierten. Oder mit anderen Worten: In dem Moment, wo die per se mortifizierende Fotografie dem Tod unmittelbar begeg-net, schafft sie zwar auch kein Leben, sorgt aber für eine Aufhebung der Zeit in der Verewigung eines Moments. Der aus einem Kontinuum herausgesprengte Zeitpartikel beginnt sich aus seiner individuellen Vergangenheit in eine potenziell infinite Zukunft zu strecken.
Jene medialen Fragestellungen an das Medium Fotografie und die klare Umsetzung in seiner Serie „Nature Morte“ verdeutlicht das Oszillieren zwischen Heiterkeit, Leben, Vergänglichkeit und Tod. Diese Qualität unterstreicht die Entscheidung der Jury, den Preis für Fotografie Lotto Brandenburg 2013 an Ingar Krauss zu vergeben – und kann auch Gänsehaut verursachen.

Felix Hoffmann für die Jury

1 Martin Schulz, Spur des Lebens und Anblick des Todes.
Die Photographie als Medium des abwesenden Körpers. In: Zeitschrift für
Kunstgeschichte 3 (2001), Bd. 64, S. 387
2 Susan Sontag, Über Fotografie [engl. Originalausgabe New York 1977]
Frankfurt a. M. 1980, S. 82
3 Ebd. S. 22

Julian Röder
1981 geboren in Erfurt, aufgewachsen in Berlin. 1998 Realschulabschluss, Stadt als Schule, Berlin. 1999 bis 2002 Ausbildung zum Fotografen bei „OSTKREUZ – Agentur der Fotografen“. 2001 Studium an der Schule „Fotografie am Schiffbauerdamm“ in Berlin. 2003 bis 2007 Studium der Fotografie bei Prof. Rautert, Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig. Seit 2004 Mitglied bei „OSTKREUZ – Agentur der Fotografen“. 2009 Diplom Kommunikationsdesign/Fotografie bei Prof. Ute Mahler und Prof. Vincent Kohlbecher, HAW Hamburg. 1998 bis 2001 Gewinner des Deutschen Jugendfotopreises. 2003 Kodak Nachwuchs Förderpreis, Student der Joop Swart Masterclass der World Press Photo Foundation. 2006 „Èlysée“, Kulturaustauschprojekt zwischen dem Goethe-Institut und dem französischen Kulturinstitut. 2009 Nominierung für den Körber-Foto-Award. 2011 Europäischer Architekturfotografie-Preis.

Bewerbung
In meiner Arbeit Mission And Task geht es um Verantwortungsentfremdung – eine Distanzierung von den Auswirkungen des eigenen Handelns. Ich beschreibe diese Verantwortungsentfremdung anhand der Europäischen Außengrenze, denn hier wird sie in zwei Dimensionen deutlich.
Die eine Dimension betrifft die Abschottung der Grenzen der Europäischen Union. Die Grenzschutzmaßnahmen sind schon länger nicht mehr nur auf die tatsächlichen territorialen Grenzen der Europäischen Union beschränkt. Die Europäische Menschenrechtskonvention untersagt eigentlich eine Zurückweisung von Flüchtlingen, doch wird eben dies ermöglicht, durch Missionen die außerhalb des Territoriums der Europäischen Union stattfinden. So wurden im Jahr 2008, etwa im Rahmen der Frontex Missionen Hera, 5969 Menschen in den Hoheitsgewässern von Senegal und Mauretanien abgefangen und zurückgeschickt. Durch bilaterale Abkommen mit Drittländern beginnt die Grenze Europas so bereits vor den Küsten West- und Nordafrikas. Der Verantwortungsbereich der EU und die Gültigkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention beschränken sich aber auf das Territorium der EU. Dies ist die erste Dimension der Verantwortungsentfremdung auf Ebene des Staatengebildes der EU.
Die zweite Dimension der Verantwortungsentfremdung, die in meiner Arbeit beschrieben werden soll, hat mehr mit der tatsächlichen Tätigkeit der Menschen zu tun, die an den Grenzschutzmaßnahmen beteiligt sind. Um die Überwachung und Sicherung der Grenzen effektiver zu gestalten, kommt immer weiterentwickeltere Technik zum Einsatz. In der spanischen Enklave Melilla etwa schützt ein hochtechnologisierter mehrteiliger Zaun die Grenze. Ein System aus festziehenden Stahlseilen fesselt dabei selbsttätig Menschen, die versuchen, diesen zu überwinden. Die Überwachung des Zaunes erfolgt per Video von einem Kontrollraum aus. Wird Alarm ausgelöst, rücken die Beamten aus und sammeln die Schwerverletzten ein, um sie in Krankenhäuser zu bringen. Wer nur leichte Verletzungen hat, wird auf die nicht europäische
Seite zurückgedrängt. Es ist hier also die Technologie und Automatisierung, die den vor Ort arbeitenden Beamten Verantwortung abnimmt.
Von Seiten der EU gibt es vielfältige Vorhaben zu weiterer Hochtechnologisierung der Außengrenzen. Etwa der Einsatz von Land-, Wasser- und Luftdrohnen, automatisierten biometrischen Erkennungsverfahren und die satellitengestützte Überwachung der Grenzen.
Ihnen gemeinsam ist der sich vergrößernde Abstand zwischen Migrationswilligen und grenzsichernden Beamten sowie die Automatisierung vieler Entscheidungen durch Technik.

Jurybegründung
Die Polizisten, die wie schwarze Ritter auf ihren Pferden durch das Kornfeld reiten, um Demonstranten zu verfolgen, die gegen die Globalisierung protestieren.
Die Militärhubschrauber auf einer der größten Waffenmessen in Abu Dhabi, die insektengleich über sonniger Palmenlandschaft im blauen Himmel stehen.
Die Menschen auf den Handelsmessen, die in ihrer künstlichen Mimik und Gestik versteinern.
Und nun der schwerbewaffnete Grenzsoldat mit seinem hochtechnologisierten Gerät, der wie ein Mime an der Außengrenze der europäischen Union zu agieren scheint.
Diese Bilder beschreiben die Arbeitsweise von Julian Röder. Seine fotografischen Projekte sind im Zusammenhang zu sehen. Teil für Teil fügt er zusammen, ein Thema greift das vorherige auf und erweitert es.
So macht er deutlich, dass für ihn alles zusammenhängt und welche Schlüsse er zieht. Er erkennt die Gemeinsamkeiten und verdeutlicht, dass sie sich aufeinander beziehen. Er provoziert Denkprozesse bei den Betrachtern. Seine Werkkomplexe sind immer seriell. Seit Jahren fährt er im Eigenauftrag an Orte, an denen soziale, politische oder ökonomische Konflikte die Folgen der Globalisierung erkennen lassen. Mehrere Jahre fotografierte er die Protestaktionen der Globalisierungskritiker am Rande der G-8 Gipfeltreffen.
Julian Röder will etwas über die Welt herausfinden und davon Bilder mitbringen. Gründliche konzeptuelle Recherchen sind für ihn selbstverständliche Vorbereitung. Die ihm eigene Bildsprache verstärkt die Aussage und die Wirkung seiner Fotografien. Röders Genauigkeit geht bis zur Form der Präsentationen, die noch einmal zu einer Verstärkung des Inhalts führen.
Zu den Werkgruppen „The Summits“, „World of Warfare“ und „Human Resources“ stellt er nun die aktuelle Arbeit „Mission and Task“.
Europa verstärkt seine Grenzen, zur Bewachung und zur Sicherung ist Frontex zuständig, eine internationale Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Sie bedient sich modernster Technik, setzt Wärmebildkameras, Bewegungsmelder und elektronische Zäune ein, um illegale Einwanderer nach Europa abzuwehren. Für die Zukunft sind Roboter und Drohneneinsätze geplant.
Julian Röder fotografiert den Frontex-Einsatz in der Türkei, Griechenland und Spanien. Die Gesten der Soldaten vermitteln Macht. Sie wirken in ihrer Rolle als Grenzwächter geradezu erstarrt in ihrer Abwehr. Man glaubt bei einer Inszenierung dabei zu sein.
Dazu die wunderschönen Landschaften, die auch als Werbebilder für Reisekataloge funktionieren würden, wären da nicht diese Widerhaken, die Grenzzäune, die man
erst auf den zweiten Blick wahrnimmt.
Julian Röder hat sich in seiner Arbeit für gesellschaftliche Themen entschieden; es sind auch immer politische Themen. Souverän nutzt er die fotografischen Mittel, geht weit über das Ereignis hinaus, schafft Bilder, die Kraft haben, die wuchtig sind, die sich einer Symbolik bedienen, die dokumentarisch sind, die konzeptuell klug erarbeitet sind, die künstlerisch und ästhetisch reif sind, die uns etwas erzählen von Globalisierung, Macht, Anpassung, Konsum, Warenwelten und von den Träumen eines besseren Lebens anderswo.
Deshalb hat die Jury entschieden, Julian Röder für seine Arbeit „Mission and Task“ den Lotto Brandenburg Kunstpreis für Fotografie 2013 zu verleihen.

Prof. Ute Mahler für die Jury