Preisträger 2012

Kunstpreis Literatur 2012

Annett Gröschner
geboren 1964 in Magdeburg. Abitur, Ankleiderin an den Bühnen der Stadt Magdeburg, 1983-1989 Studium der Germanistik an der Humboldt-Universität, Berlin, 1990-1991 Forschungsstudium in Berlin und Paris und Mitbegründerin der Frauenzeitschrift „Ypsilon“ und des Unabhängigen Frauenverbandes; 1992-1996 Arbeit als Historikerin für das Prenzlauer Berg Museum, 1994-1998 Redakteurin der Zeitschriften SKLAVEN und SKLAVEN-Aufstand; seit 1997 freiberuflich als Schriftstellerin und Journalistin tätig, u. a. für die Berliner Seiten der FAZ, die taz, Freitag, Literaturen und diverse Rundfunksender.
2005-2008 und 2009-2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin für besondere Aufgaben an der Universität Hildesheim; schreibt Romane, Essays, Theaterstücke  und Reportagen. 2000 erschien ihr Roman „Moskauer Eis“, 2011 der Roman „Walpurgistag“. Im Oktober 2012 folgt ihr neuer Band „Mit der Linie 4 um die Welt“.

Jurybegründung
Annett Gröschner hat mit ihrem Roman „Walpurgistag“ die Sinfonie einer Großstadt geschrieben.
Berlin ist die Bühne, auf der Gröschner ihre Abenteurer, Sonderlinge und Außenseiter, ihre ruhelosen und getriebenen Figuren auftreten lässt, die aus unterschiedlichen Generationen und Stadtvierteln kommen. In fünfundzwanzig Einzelschicksalen in jeweils eigenen Tonlagen, die sich so beiläufig wie kunstvoll aufeinander beziehen, fächert sich ein Panorama auf, das der Stadt ein literarisches Gesicht gibt. Gröschners Roman liegt weit jenseits von Zeitgeist-Studie und Stadtporträt. Der ungewöhnliche Blick der Autorin, in dem sich Gewohntes auflöst und Bekanntes verdreht, in dem das scheinbar Verrückte selbstverständlich wird, ermöglicht eine Vertiefung des Sehens und erzählt auf diese Weise grundlegend von menschlichem Schicksal.
Von einem realistischen Erzählrahmen überspannt, entwirft die Autorin beeindruckende Szenen des Skurrilen, sie beherrscht die Schreibarten des Absurden ebenso wie die des Poetischen, sie versteht sich auf Situationskomik und auf nuancierte Schilderungen unterschiedlicher Charaktere und Milieus. Ihre aufwendige und genaue Recherche verankert den Roman in der Wirklichkeit des 30. April 2002 und hebt doch leichtfüßig davon ab, hinein in literarische Verzauberung.
Annett  Gröschners „Walpurgistag“ ist ein stimmgewaltiges Meisterwerk, ein moderner Schelmenroman, in dem der Held einer von vielen ist; immer gerade der, mit dem diese außergewöhnliche Erzählerin ihr Walpurgisnacht-helles Sprachfeuer entzündet.

Antje Rávic Strubel für die Jury

Kunstpreis Fotografie 2012

Beatrice Minda
geboren 1968 in München. 1988-1989 Studium der Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1991-1992 der bildenden Kunst an der Kunstakademie Münster und 1992-1997 an der Hochschule der Künste (heute UdK) Berlin, Meisterschülerin bei Prof. Katharina Sieverding. Seit 1997 freischaffende Künstlerin mit Schwerpunkt künstlerische Fotografie, lebt in Berlin. 1995 Studienaufenthalt École nationale supérieure des beaux-arts Paris, 1999 Paris-Stipendium der französischen Regierung, 2004 Studienaufenthalt Cité Internationale des Arts Paris durch Auslandsstipendium der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur Berlin. 2011 Förderstipendium Stiftung maecenia, Frankfurt. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen sowie Publikationen, u. a. Beatrice Minda, „Innenwelt. Inner world“, Hatje Cantz 2007.

Bewerbung
Während meiner fotografischen Erkundungsreisen durch Privathäuser in der islamischen Republik Iran habe ich im Herzen des alten Teherans, inmitten des stickigen und hektischen Autohändlerquartiers, eine alte Patriziervilla hinter hohen Mauern entdeckt. Der Legende nach einst dem österreichischen Konsul gehörend, ist dieses Anwesen stilistisch eine einzigartige Mischung aus westlichen und orientalischen Elementen.
Mehrere Generationen einer großen persischen Familie haben hier ihre Spuren hinterlassen. Nun liegen Haus und Garten gleichsam im Dornröschenschlaf, nur noch von einem Diener bewohnt. Die Zeit scheint darin stehen geblieben. Bis vor kurzem haben sich hier wöchentlich ältere Damen zum Tee in Louis XVI-Fauteuils niedergelassen und vom feinen Teheraner Zuckergebäck genascht, während draußen die islamische Revolution die Lebensverhältnisse veränderte.
Ich beschäftige mich immer wieder mit dem Verhältnis von privatem Raum, Erinnerung und Geschichte. Dabei erkunde ich die Beziehung der Menschen zu den sie umgebenden Räumen und stelle diese in ihrem gesellschaftspolitischen Zusammenhang dar.
„Tea Time in Tehran“ ist eine von kurzen Paralleltexten begleitete Serie kleinformatiger Ansichten des geschichts- und geschichtenträchtigen Teheraner Hauses.

Jurybegründung
Beatrice Mindas neue Serie „Tea Time in Tehran“ zeichnet sich durch außergewöhnliche inhaltliche Konzentration, gesellschaftspolitische Relevanz und thematische Aktualität aus. Die subtilen Bilder eines ehemaligen Patrizierhauses im Zentrum Teherans verweisen auf die Epochenwechsel des von Islamischer Revolution, Irak-Krieg und neuerlichen Repressionen Ahmadinedschads geprägten Landes sowie auf die internationale Verflechtung der politischen Ereignisse, aber auch auf eine ungewisse Zukunft. Mindas Serie funktioniert wie die Untersuchung eines Mikrokosmos, die Aufschluss erteilt über die Funktionsweisen des Makrokosmos. Die private wird zur historischen Dimension, die – und das zeichnet unter anderem die Qualität dieser Arbeit aus – nur hintergründig mitschwingt. Der einzige Bewohner des Hauses wird zum Stellvertreter einer ganzen Familiengeschichte. Das Haus ist pars pro toto, bei dem die Familien- und die Landesgeschichte unverbrüchlich ineinander verwoben sind. In Beatrice Mindas Serie „Tea Time in Tehran“ vereinen sich thematische Dichte und eindringlicher fotografischer Stil zu einer intellektuell wie ästhetisch überzeugenden Arbeit von großer Intensität.
Bei ihrer Serie „Innenwelt“ hatte Beatrice Minda als Tochter rumänischer Auswanderer noch ihrer eigenen Vergangenheit nachgespürt und Privaträume von bürgerlichen und aristokratischen Rumänen fotografiert, die in ihrem eigenen Land geblieben oder nach Paris, München und Berlin geflohen waren. Sie suchte nach Erinnerungsbildern, die ihre Gefühle und Erinnerungen an die Zeitreise transportierten, die sie antrat, wenn sie als Kind die Großeltern in Rumänien besuchte. Was sie fand war, dass die Geschichte des Landes – Stalinismus, Kalter Krieg, Ceausescu-Diktatur – den Innenräumen deutlich eingeschrieben steht. Die Enteigneten und Zwangsumsiedler stopften ihr Mobiliar vergangener Zeiten in viel zu klein gewordenen Räume, die Exilanten verehren die wenigen mitgebrachten Dinge wie Reliquien und die, die alles verloren haben, restituieren das Verlorene je nach finanziellen Möglichkeiten durch Antiquitäten oder Trödel, der an die Heimat erinnert.
Mit „Tea Time in Tehran“ wandelt die Künstlerin nicht mehr auf den Spuren ihrer eigenen Vergangenheit, sondern spürt sehr viel allgemeiner dem Phänomen nach, wie Innenräume die Geschichte ihrer Bewohner preisgeben und wie sich darin die Geschichte des Landes eingegraben hat. Sie wählte den Iran, wo Innenräume intensiver als in Europa politisch und kulturell aufgeladen sind. Da im Iran das öffentliche Leben streng reglementiert ist, wollte sie dort der Frage nachgehen, ob der innere Raum einen Gegenentwurf zur Außenwelt darstellt, der mit besonderer Bedeutung aufgeladen ist, und ob dieser sichtbar wird. Beatrice Minda „portraitiert“ ein hochherrschaftliches, frei stehendes Privathaus, wie es nicht mehr viele gibt in Teheran. Das Haus würde offenkundig ganz dem Verfall anheimfallen, wenn der Diener des Hausbesitzers dort nicht wohnen würde, um Eindringlinge fern zu halten. Wir entdecken ihn auf einer der Aufnahmen hinter einer geöffneten Glastür am Küchentisch. Er sitzt nicht an der langen Tafel im Speisesaal. Man versteht, dass er sein Essen in der Küche einnimmt und sich meist dort aufhält, weil die Präsentationsräume nicht seiner Welt zugehören, auch wenn er ein guter Freund der Familie ist. Wir sehen eine Gesamtansicht des Hauses von außen sowie einige Details vom verwilderten Garten, aber der Großteil der Aufnahmen zeigt die Innenräume. Die Mischung aus orientalischem und europäischem Mobiliar verweist nicht nur auf vergangene Zeiten, sondern bietet auch eine emotionale Identifikationsfläche. Überhaupt verleiht das durch die Fensteröffnungen eindringende Tageslicht allen Räumen und Dingen einen warmen Farbton von atmosphärischer Leuchtkraft, die Komplementärkontraste betont und die orientalische Muster wie eine Verlockung hervorhebt. Einige Räume sind recht gut erhalten und in Benutzung, wie der Salon mit Kristalllüster, schweren Damastvorhängen, Orientteppichen und Louis XVI Stühlen, oder das Schlafzimmer, wobei das Bild über dem Bett abgenommen wurde und sich an der Stelle eine helle Fläche mit schwarzem Rand zeigt. Andere Räume zeigen deutliche Spuren des Verfalls, Wasserflecken und Risse in den Decken, abblätternde Tapeten, vergilbte Stoffe, und einige der kleineren Räume sind zur Rumpelkammer mutiert, mit Möbeln und Erinnerungsstücken der verstorbenen Hausbewohner angefüllt. Die Gesamtansichten der Räume werden ergänzt durch Detailansichten von scheinbar beliebigen, aber vielsprechenden Gegenständen. Die alten Holzskier scheinen schon seit Jahrzehnten in dieser Ecke zu stehen, sie erinnern daran, dass Teheran in 1100 m Höhe liegt und Skifahren im Gebirge nördlich der Stadt zur selbstverständlichen Freizeitbeschäftigung der Reichen gehörte. Der Samowar ist russischer Herkunft und verweist nicht nur darauf, dass Iran an der Grenze zu Russland liegt, sondern auch auf die ausgeprägten iranischen Teesitten und damit wiederum auf die Ausbeutung durch die Briten, die wiederum selbst für Ihre Teesitten berühmt sind. Er glänzt und man versteht, dass er nicht nur bei den seltenen Besuchen des Hausherrn in Betrieb genommen wird, sondern dass der Diener regelmäßig „Tea Time in Tehran“ hält. Die Geschichte des Hauses und ihrer Bewohner lässt sich in dieser Weise auch ohne weitere Erläuterung entschlüsseln. Beatrice Minda hat jedoch vorgesehen, in einer Ausstellungssituation an die Wände unterhalb der Bilder als „Parallelebene“ Texte anzubringen. Die präzise und anschaulich formulierten Texte verraten biografische Details der Hausbewohner, die in den Bildern durchaus sichtbar sind, wenn man diese kennt. Erst durch die Hintergrundinformation kann die Bildserie in ihrer ganzen Dimension verstanden werden, zumal die gesellschaftlich hochstehenden Besitzer auf politischer Ebene Einfluss hatten und begünstigt waren. „Als die Großeltern noch lebten, hielten ein Schreiner, ein Gärtner und viele weitere Bedienstete das Haus in Ordnung. Heute wäre ein Handwerker, der die wachsenden Risse in den Stuckaturen in Stand setzen könnte, in Iran unbezahlbar. Und kaum zu finden.“„Das Testament sah eine Aufteilung des Hauses vor. Die Geschwister hassten einander so sehr, dass sie sich gegenseitig Zimmerverbot erteilten. Dennoch zog niemand weg. Man traf sich regelmäßig im gemeinsamen Speisesaal zum höflichen Dinner.“
„Zuletzt wohnte noch Taram in dem Haus. Regelmäßig empfing sie andere ältere Damen zum Kartenspiel, während draußen die Revolutionswächter allgegenwärtig waren. Ein Diener reichte Tee und Gebäck. Heute ist er nur noch Wächter der unbewohnten Villa. Nachts lässt er die Hunde raus.“
Drei Mal war Beatrice Minda im Iran. Diesen Sommer erhält sie Besuch vom Besitzer des Hauses, der seit über einem Jahr versucht, das Haus zu verkaufen. Falls ihm dies gelingt, könnte es sich für die Künstlerin lohnen, ein weiteres Mal nach Teheran zu reisen.

Dr. Christiane Stahl für die Jury

Göran Gnaudschun
geboren 1971 in Potsdam. 1987-1993 Lehre als Wasserbauer, Abitur, Zivildienst, abgebrochenes Bauingenieurstudium. 1994-2003 Studium der künstlerischen Fotografie und Aufbaustudium für Bildende Kunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Meisterschüler bei Prof. Timm Rautert. 2000 1. Kunstpreis für Bildende Kunst „pro Brandenburg e.V.“. Etliche Stipendien, u. a. 2000/2001 Barkenhoff-Stiftung Worpswede, 2001/2002 LAND BRANDENBURG LOTTO GmbH, 2004 DAAD-Reisestipendium Osteuropa, 2005 Röderhof e. V., 2006 Künstlerhaus Lauenburg/Elbe, 2008 Land Brandenburg, 2011 Schloss Wiepersdorf. Seit 2009 Lehraufträge für Fotografie an der Universität und der Fachhochschule Potsdam, Mitglied bei „lux-fotografen“ und „BerlinPhotoWorkshops“. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen sowie Publikationen, u. a. „Neue Portraits“, Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus 2008. Lebt in Potsdam.

Bewerbung
Mitten in Berlin bilden Menschen aus Trümmern ihrer selbst vorübergehend Häuser, errichten spontan ein Obdach und wärmen es mit ihren  Geschichten.
Der Berliner Alexanderplatz. Hier treffen sich die, deren Leben aus dem Gleis geraten ist. Die, die anders geworden sind, oft ohne dass sie es wollten, die mit den Rastern der Gesellschaft nicht klarkommen – unfähig, deren Regeln zu akzeptieren. Einige sind Punks oder haben sich eine andere Schutzidentität zugelegt. Manche würden im normalen Straßenbild nicht weiter auffallen, außer dass sie viel Zeit zu haben scheinen. Etliche sind wohnungslos oder ohne jedes Obdach. Immer wieder sind einige von ihnen in Haft, manche nehmen Drogen, alle trinken sehr viel. Was passiert, wenn die Enge von Familien, die keine mehr sind, nicht mehr zu ertragen ist? Wenn Desinteresse, Gewalt, manchmal auch emotionale Verwahrlosung das eigene Leben beschädigt? Wenn man sich finden will, fernab von dem, was anderen schon missglückt ist? Man gehorcht dem Fluchtreflex und geht in die weite Welt.
Die weite Welt, das ist für viele Berlin und der Alexanderplatz, ist der Ort, an dem Ausreißer und Gestrandete, Vagabunden und Crash-Kids eine Gemeinschaft bilden. Sie treffen hier auf Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die erste Überlebenstipps und manchmal auch eine Übernachtung geben. Die meisten von ihnen sind sehr jung. Manche sind erst dreizehn und schon von zu Hause weggelaufen. Selten trifft man Menschen über Dreißig. Das Leben auf der Straße ist anders, manchmal schillernder, oft brutaler als das was der Normalbürger erlebt. Kinder werden schnell erwachsen und Erwachsene schnell alt.
Die Bedingungen der Arbeitswelt sind fern und oft passen die Menschen vom Alex auch nicht mehr in die Systeme der sozialen Fürsorge. Obdachlosigkeit ist ein Zustand, der für mich nur im Ausnahmefall das Schlafen im Gebüsch bezeichnet. Obdachlosigkeit ist die eigene Unbehaustheit in einer Welt, die man nicht mehr versteht. Sie ist das Fehlen von Bezügen zur Gesellschaft, ist das Abschneiden von Verbindungen zu Menschen, deren Regeln und Rituale man als sinnlos und somit leer empfindet.
Wer Einschneidendes erlebt hat – oft mit Bezugspersonen, denen man anvertraut war – kann dem, was man normale Welt nennt, kein Vertrauen mehr entgegenbringen. So orientiert man sich an den anderen Schiffbrüchigen des Platzes, nimmt deren Regeln an, weil diese durchschaubar sind und selten jemand aus dem Hinterhalt agiert. Der Alexanderplatz bedeutet Schutz, auch wenn gelegentlich Blut fließt. Man umarmt sich, wenn man auf den Alex kommt.
Die  Menschen sind hier, weil sie nicht vereinsamen wollen. Fremden gegenüber sind sie deshalb offener, als man es erwarten würde.
Seit April 2010 bin ich regelmäßig hier. Das, was ich hier erlebe, ist oft verwirrend, selten eindeutig. Das Verständnis für Begebenheiten würde eine lange Vorkenntnis der Geschichten erfordern, die keiner hier haben kann – präsent sind immer Wirkungen und die Ursachen bleiben im Dunkeln. Was aber keinen weiter zu stören scheint. Das, was mir erzählt wird, finde ich selten in den Portraits, die ich fotografiere. Den Schmutz, die Gewalt, die seelischen Verletzungen, die das Leben vieler bestimmen, kann ich nicht als gültiges Bild festhalten. Zu komplex ist diese Realität. Bilder sind nur Bilder und finden im besten Fall zu ihrer eigenen Wirklichkeit – dessen bin ich mir bewusst und füge der fotografischen Arbeit Texte hinzu.
Ich abstrahiere und transformiere, was ich am Alexanderplatz vorfinde. Und dennoch entsteht ein ebenso gültiges Bild der Szene, weil sich durch den Prozess der Loslösung die Fragestellungen erweitern. Ich kann keine Wahrheit aufdecken und will auch keinen Schleier lüften. Ich möchte etwas zeigen. In meinen Portraits geht es um die Wiedererlangung von Würde. Ich möchte in den Bildern etwas freilegen, was man oft verschüttet glaubt: innere Integrität, Selbstbewusstheit und auch Schönheit. Schönheit dort, wo man sie kaum erwartet. Der Alexanderplatz ist nicht nur ein Ort, er ist ein Zustand, der sich dem Vorübergehenden nicht so leicht offenbart.
Dass sich hinter den Gesichtern einzelne Schicksale verbergen, nehmen die Passanten oft nicht wahr, weil man dem, der einen um Kleingeld anschnorrt, nicht ins Gesicht sieht. Nicht-Allein-Sein als kleinster gemeinsamer Nenner. Irgendjemand ist immer da. Die Tage vergehen, die Zeit spielt kaum eine Rolle. Oft ist es unmöglich, sich zu verabreden: morgen, das ginge gerade noch, aber übermorgen?

Potsdam, Januar 2012

Jurybegründung
Göran Gnaudschun hat sich seinem Projekt „Berlin Alexanderplatz“ mit Haut und Haaren verschrieben. Auch heute noch geht er zum Alex, um jene Gruppe von Leuten zu treffen, die mit der Gesellschaft nicht klar kommen und deren Leben irgendwann aus den Fugen geraten ist. Als ich ihn anrief, um ein Vorgespräch zu führen und ihm zum Kunstpreis Fotografie zu gratulieren, war er gerade auf dem Weg dorthin. Er wolle den Leuten vom Alex einen ausgeben und auf den Preis anstoßen. Schließlich geht es um sie, stehen sie im Mittelpunkt der prämierten Arbeit und hat er ihnen viel zu verdanken. Natürlich fühlt er sich ihnen eng verbunden.
Sicherlich liegt es auch in der Biografie von Göran Gnaudschun begründet, dass er sich das Vertrauen dieser Menschen erwerben konnte und diese Bilder so wurden, wie sie sind. Er war einige Jahre als Punkmusiker der Gruppe „44 Leningrad“ unterwegs und hat über „diese wilden Jahre“ 1996 seinen ersten Fotoessay herausgegeben. Seinen Abschluss an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig bestand aus einer Bildserie über die Hausbesetzerszene in Potsdam, die ohne Innenkenntnis nicht hätte entstehen können. Es wird Gründe geben, aufgrund derer er nachvollziehen kann, warum man heftiger reagiert als andere und warum emotionale Gleichgültigkeit, Missbrauch oder Gewalt Zwölfjährige die Flucht vor den Schutzbefohlenen antreten lassen. Oder warum manche aus dem Raster fallen und die Dinge nicht so auf die Reihe bekommen wie „Leute aus geordneten Verhältnissen“. Er wird die Wut nachvollziehen können, die sich irgendwie den Weg bahnen muss, sei es, indem man die erfahrene Gewalt an seine Umgebung weiter reicht oder sei es in Form von Selbstzerstörung. Ihm ist klar, dass die Gewalt nach außen und nach innen Eins sind. Aber Gnaudschuns Empathie ist ohne Gefühlsduselei, sein Mitleid ist Teil der Geschichte. Es sind feinfühlige, sensible Portraits von Menschen abseits der Gesellschaft geworden, ergreifende Portraits der Gestrandeten, Geschändeten und Gescheiterten, denen Gnaudschun ihre Würde zurück gegeben hat. Wenn uns „diese Typen“ auf dem Alex anschnorren, sehen wir ihnen kaum in die Augen. Hier schaut man sie hingegen gerne an, auch länger als andere Portraits, nicht aufgrund ihrer exotischen Identifikationsattribute, sondern weil sie in ihrer offenkundigen Verletzlichkeit eine Schönheit offenbaren, die man nicht für möglich gehalten hätte – vermutlich am allerwenigsten sie selbst. Mit diesen Portraits haben sie ein Bild ihrer Persönlichkeit von ungeahnter positiver Ausstrahlung erhalten, an dem sie sich festhalten können, wenn mal wieder einer dieser schlechteren Tage kommt.
Vielleicht haben sich einige der Portraitierten schon mal gegen ein paar Cent von den Touris am Alex fotografieren lassen. Die Punks mit gefärbten Haaren, Gruftis mit schwarzweiß geschminkten Gesichtern und Ringen in den Nasen, oder die alkoholisierten Obdachlosen, deren Tattoos, nietenbewehrte Lederkluft und von der letzten Schlägerei schorfige Wunden sich sehr pittoresk fotografieren lassen. Nein, was Gnaudschun festhält ist kein buntes Panoptikum, sondern ein tiefgründiges Portrait eines gesellschaftlichen Phänomens, das gerne verdrängt wird, weil es sich um äußerst unappetitliche Abgründe der Kehrseite unserer Gesellschaft handelt.
Die Geschichten der Portraitierten, die sich der Fotograf angehört hat, sind erschütternd und teilweise kaum zu glauben. Er hat viele Interviews zusammen getragen und zu Texten geformt, die unverbrüchlicher Teil dieser Fotoserie sind.
Die Texte sind prägnant und packend geschrieben, spannender als jeder Krimi, weil der Sprachduktus unmittelbar zu uns durchdringt und weil die Texte sind wie die Bilder: objektive Dokumente von meist noch sehr jungen Menschen jenseits der gesellschaftlichen Ordnung, die mit Göran Gnaudschuns fotografischer Arbeit „Berlin Alexanderplatz“ ihre innere Integrität, Selbstbewusstheit und Schönheit wieder erlangen.

Dr. Christiane Stahl für die Jury